Neuer Blick auf Familienvermögen und Familienerbe
Vom Familienunternehmen zur Unternehmerfamilie
„Familienunternehmen sind ein interessantes Phänomen“, sagt Marta Widz, Professorin an der SDA Bocconi School of Management und spezialisiert auf Familienunternehmen und Family Offices. Es gibt sie seit Jahrtausenden, aber über Jahrhunderte hinweg hat es die Wissenschaft versäumt, sie ebenso gründlich zu untersuchen wie andere Arten von Unternehmen. Während ihrer gesamten wissenschaftlichen Laufbahn hat Marta Widz sich bemüht, diesem Manko abzuhelfen, indem sie zu dem Thema forscht, mit Inhabern von Familienunternehmen und Familienvermögen spricht und versucht, deren Beweggründe und Ziele zu verstehen, gleichzeitig aber auch die Fakten von überkommenen Annahmen zu trennen. Und auf überkommene Annahmen stößt man bei diesem Thema allenthalben.
So ist Marta Widz davon überzeugt, dass wir ein breiteres Verständnis des dehnbaren Begriffs „Familienvermögen“ brauchen. „Unter Familienvermögen sollte tatsächlich viel mehr verstanden werden als nur das Finanzvermögen“, erklärt Marta Widz. „Auch verschiedene Arten von Nicht-Finanzvermögen gehören dazu, unter anderem das soziale Vermögen, der geistige Reichtum, das historische Erbe und viele andere Erfolgsgeheimnisse des Unternehmertums und der Führungskultur in einer Familie, die mehrere Generationen umspannt.“ Marta Widz sieht ihre persönliche Mission darin, dieses breitere Verständnis von Familienvermögen wissenschaftlich zu untermauern und an Eigentümer von Familienvermögen und die Erbengeneration zu vermitteln. Ein Forschungsprojekt hierzu soll an der SDA Bocconi School of Management unter Federführung der Family Wealth Initiative durchgeführt werden, die von Professor Alessandro Minichilli mitgegründet wurde.
Unter Familienvermögen sollte viel mehr verstanden werden als nur das Finanzvermögen.
Eine weitere Falle, in die wir oft tappen, ist die Vorstellung von Familienunternehmen als Familien, die nur ein einziges Unternehmen haben und betreiben. „Eigentlich sollten wir gar nicht mehr von Familienunternehmen sprechen, sondern von Unternehmerfamilien“, meint Marta Widz, weil die meisten Mehrgenerationen-Unternehmerfamilien ein breit gestreutes Unternehmensportfolio haben, das sich immer wieder verändert. Die meisten Familien, mit denen sie zusammenarbeitet, sind seit mehreren Generationen auf der ganzen Welt unternehmerisch tätig und ergänzen ihr Portfolio ständig durch neue Unternehmen und Kapitalanlagen, während andere abgestoßen werden. „Im Laufe der Zeit kommt es bei den Familien zu einer Verschiebung von der Gründeridentität mit nur einem Unternehmen zur Eigentümeridentität mit breit gestreutem Eigentum, alsozur Identität einer Unternehmerfamilie“, sagt sie.
Wichtig ist dies vor allem dann, wenn es darum geht, das Familienvermögen an die nächste Generation weiterzugeben. Als konkretes Beispiel nennt Marta Widz eine australische Unternehmerfamilie, deren drei Kinder bewusst entschieden haben, nicht in das geerbte Familienunternehmen einzutreten, sondern auszusteigen und ein eigenes Family Office zu gründen, das im Bereich Impact Investing tätig ist. „Befremdlich ist das nur dann, wenn man unter Nachfolge lediglich den klassischen Fall versteht, dass Eltern ihr einziges Unternehmen den Kindern übergeben. Diese Definition erscheint mir zu eng“, sagt Marta Widz. „Für mich war dies eine sehr erfolgreiche Nachfolge, denn das Vermögen und das unternehmerische Erbe der Familie sind ja erhalten geblieben.“
Im Laufe der Zeit kommt es bei den Familien zu einer Verschiebung von der Gründeridentität zur Identität einer Unternehmerfamilie.
Die Dynamik innerhalb der Familie und innerhalb des Unternehmens verstehen
Wenn die Übertragung des Familienvermögens ansteht, kommt es häufig zu Konflikten, die laut Marta Widz in Unternehmerfamilien oft „existenziell“ sind. Hier sind zwei Systeme – ein familiäres und ein geschäftliches – am Werk, die sich „in ihrer Logik und ihren Zielen stark unterscheiden“, sagt sie. In der Logik einer Familie geht es um Liebe, Mitgefühl und Fairness („der Langsamste bestimmt das Tempo für alle“, wie sie es ausdrückt). Im Unternehmen dagegen dreht sich alles um Schnelligkeit, Wettbewerb und Kompetenz, und es herrscht eine "Hire and Fire"-Mentalität. Diese gegensätzlichen Logiken prallen unweigerlich aufeinander, sodass es zu Konflikten kommt, die großen Schaden anrichten können, weil sie „extrem emotional“ sind, so Marta Widz. Manchmal ist das Unternehmen auch einfach nur der Blitzableiter für tiefer liegende Spannungen. „Wenn man genauer hinschaut“, sagt sie, „streiten sich die Geschwister oft gar nicht über das Unternehmen oder das Vermögen, sondern über persönlichere Dinge wie die Frage, wer von den Eltern mehr Aufmerksamkeit undLiebe bekommt.“
Da die Vermögensübertragung und die Nachfolge so kritische Momente sind, die auf jede Generation zukommen, ist hier laut Marta Widz äußerste Sorgfalt geboten. Ihr erster Ratschlag lautet, dass sich der Nachwuchs nicht darauf kaprizieren darf, im Unternehmen oder Family Office die Leitung zu übernehmen. „Die personellen Ressourcen einer Familie sind nun einmal begrenzt, und ein Familienmitglied ist daher nur selten die beste Lösung“, sagt sie. „Meist ließe sich auf dem Markt wohl eine bessere Besetzung für den Chefposten finden.“ Eine externe Lösung hält sie auch deshalb für sinnvoll, weil Führungskräfte Fehler machen können, für die sie entlassen werden müssen, und diese Entscheidung ist schwierig, wenn es um ein Familienmitglied geht.
Die nächste Generation auf ihre Führungsrolle vorbereiten
Daher rät sie der jungen Generation, sich in erster Linie darauf zu konzentrieren, „verantwortungsvolle Eigentümer zu werden, denn dieser Karriereweg wird mit Sicherheit auf sie warten“. Doch was ist überhaupt ein verantwortungsvoller Eigentümer? Für Marta Widz geht es darum, die Verantwortung für das Erbe der Familie, ihr Finanzvermögen und verschiedene Arten von Nicht-Finanzvermögen zu übernehmen und der nächsten Generation mit der Zeit das unternehmerische Denken zu vermitteln. Wenn sich die Jüngeren interessiert und begabt genug zeigen, können sie auch in die Leitung des Unternehmens, der Familienholding oder des Family Office eintreten. Andernfalls „gibt es außerhalb des Unternehmens im weiteren Umfeld einer Unternehmerfamilie viele Funktionen, die mit Familienmitgliedern besetzt werden müssen,“ sagt sie, „etwa im Familienrat,einem Leitungsgremium im System der Family Governance.“
Für den Fall, dass die nächste Generation aber tatsächlich die Führung übernimmt, rät Marta Widz vor allem zur Geduld. Wie Untersuchungen zeigen, kann dieser Prozess bis zu sieben Jahre dauern. Laut Marta Widz sollte der Nachwuchs vor allem außerhalb des Familienunternehmens Erfahrungen sammeln. Ein Familienunternehmen, das sie untersucht hat, besteht darauf, dass Familienmitglieder der nächsten Generation erst dann einsteigen können, wenn sie in einem externen Unternehmen mindestens zweimal befördert wurden und ein mindestens fünfköpfiges Team geleitet haben. „Dann kommt man als etablierte Führungskraft mit entsprechender Glaubwürdigkeit“, sagt sie. Vor allem sieht sie die nächste Generation von Führungskräften in der Pflicht, von anderen Eigentümern von Familienunternehmen und Familienvermögen zu lernen und im Idealfall auch irgendeine Form von betriebswirtschaftlicher Ausbildung zu absolvieren. Und dann, so Marta Widz, heißt es: „kommunizieren, kommunizieren, kommunizieren, damit Angehörige, Mitarbeitende, Lieferanten und Kunden wissen, dass man diese Funktion übernehmen wird und wie das ablaufen soll.“ Kein Wunder, dass der Prozess „sehr, sehr lang“ dauern kann, fügt sie hinzu.
Die Bocconi-Universität in Mailand, Italien. Der neue Campus der SDA Bocconi School of Management wurde von dem japanischen Architekturstudio SANAA entworfen und 2019 fertiggestellt. Der Campus befindet sich neben dem bisherigen Universitätsgebäude auf dem Gelände einer ehemaligen Milchverarbeitungsanlage.
Ein Generationswechsel ist schon schwierig genug, aber je älter das Unternehmen und je größer die Familie ist, desto komplizierter und konfliktträchtiger wird die Sache. „In älteren Familien sind die Verwandtschaftsverhältnisse und damit auch die Beziehungen komplexer, und Konflikte können vererbt werden, weil die Loyalität gegenüber den Eltern natürlich meist größer ist als gegenüber der Tante oder dem Onkel oder Cousins dritten, vierten oder fünften Grades“, sagt Marta Widz. „Dann bestehen die Konflikte nicht nur zwischen der aktuellen und der nächsten Generation, sondern auch zwischen verschiedenen Familienzweigen.“
Familienzusammenhalt stärken und ein bleibendes Vermächtnis schaffen
Zwei Faktoren können die Uneinigkeit in Unternehmerfamilien noch verstärken. Zum einen breiten sich Familien meist mit der Zeit räumlich aus, sodass immer größere Distanzen zu überbrücken sind. Und zum anderen entfällt auf das einzelne Familienmitglied mit jeder Generation ein immer kleinerer Eigentumsanteil. „Am Ende ist das Unternehmensportfolio nicht mehr der Hauptzweck, der alle zusammenhält“, sagt Marta Widz. Unter solchen Umständen muss der familiäre Zusammenhalt zu einem bewussten Ziel werden. Eine Priorität sollte natürlich die Governance sein. Hierzu gehört alles von der Besetzung des Leitungsgremiums über Eigentumsvereinbarungen bis hin zu Anlagegrundsätzen und womöglich auch die Entscheidung, einen Teil des Familienvermögens in einen Trust oder eine Stiftung zu verlagern. Ein weiterer Aspekt ist aber die Family Governance, die verschiedene Strukturen und Dokumente umfassen kann, wie etwa eine Familiencharta oder -verfassung, welche die Beziehung der Familie zu ihrem Eigentum und Vermögen formalisiert.
Es gibt viele verschiedene kreative Ideen, wie man sein Erbe mit Blick auf das Familienvermögen pflegen kann.
Es gibt jedoch auch eine Reihe „sanfterer“ Möglichkeiten, den Zusammenhalt der Familie zu fördern, sagt Marta Widz. So nutzt etwa eine Unternehmerfamilie, mit der sie zusammengearbeitet hat, eine interne Kommunikationsplattform, die die Mitglieder an Geburts- und Jahrestage erinnert. Eine andere Familie veranstaltet für ihre über 200 Anteilseigner jährlich ein mehrtägiges Treffen. „Wer langfristig denkt, muss den Zusammenhalt der Familie feiern und die Eintracht mit diesen Methoden stärken“, sagt sie. Kaum etwas verbindet eine Familie stärker als der Wunsch, dem Familienvermögen einen Sinn zu geben, sei es „durch ein Family Office, philanthropisches Engagement im Rahmen einer gemeinnützigen Stiftung oder ein Familienmuseum“, fügt sie hinzu. Solche Aktivitäten haben natürlich eine Außenwirkung, aber auch innerhalb der Familie spielen sie eine greifbare Rolle, indem sie verbindende Werte festschreiben unddas Familienvermögen in „Purposeful Wealth“ verwandeln.
An dieser Stelle kommen laut Marta Widz auch Familiengeschichten ins Spiel. „Wir wissen ja alle, dass Unternehmerfamilien langfristig denken, aber darunter verstehen wir meist, dass sie die Zukunft planen“, sagt sie. „Doch sie denken auch lange zurück.“ Für sie ist dies die beste Definition dafür, was das „Erbe“ eines Familienunternehmens eigentlich ist. „Es ist alles, was die Familie im Laufe der Generationen mitgenommen hat: die Erfahrungen, die Höhen und Tiefen und die bewussten und unbewussten Erkenntnisse, die das Erfolgsgeheimnis der Familie ausmachen.“
Die Weitergabe dieses Erbes an die nächste Generation beginnt oft ganz entspannt am Esstisch. Von den vielen Nachwuchseigentümern eines Familienunternehmens oder Familienvermögens, die Marta Widz trifft, wissen die wenigsten genau, wann sie erfahren haben, wie das Vermögen der Familie zustande gekommen ist. „Oft sagen sie, sie seien in dieses Vermögen hineingeboren worden und es sei einfach immer da gewesen“, erklärt sie. Irgendwann kann diese Familiengeschichte aber auch formalisiert werden – mit einem Buch über die Ursprünge des Vermögens oder Unternehmens oder vielleicht durch die Gründung eines Familienmuseums. So berichtet sie von einer Familie, die in ihrer Firmenzentrale eine „Geschichtswand“ hat – eine Wand mit einer Zeitleiste, historischen Fotos und anderen Objekten, die die Geschichte der unternehmerischen Aktivitäten dieser Familie erzählen. Bevor neue Mitarbeitende dort anfangen, führt sie ein Mitglied der Eigentümerfamilie an dieser Wand entlang. „Es gibt nicht nur einen Weg“, sagt Marta Widz. „Es gibt viele verschiedene kreative Ideen, wie man sein Erbe mit Blick auf das Familienvermögen pflegen kann.“